Spindler-Postille

Die Spindler-Postillen von 1596: Die beiden ältesten Bücher in unserem Gemeindearchiv

Spindler Postilla Seiten„Außlegung der Euangelien / so auff einen jeden Sonntag durchs ganzte Jar zu predigen verordnet seyn: Allen Christgläubigen zur heylsamen lehr und underricht / auch zu einem kräftigen lebendigen trost / jetzt von newem gestelt und in druck geben Durch Georgium Spindler Emeritum“

So liest sich der Titel eines Buches in einem unserer Archivschränke. Zugegeben: Dermaßen umständlich formuliert heute niemand mehr. Aber dieses Buch ist auch schon ziemlich alt. Es wurde im Jahre 1596 in Siegen gedruckt. Ein weiteres Buch aus diesem Jahr trägt folgenden Titel:

Spindler Postilla Titelseite„Passio et resurrectio Christi: Außlegung der Historien und Geschichte vom leyden / sterben und auferstehung unsers HERRN und Heylands Jesu Christi / wie sie der Evangelist Johannes beschreibet. Geprediget und jetzt erst in druck verfertiget Durch Georgium Spindler Emeritum, jetzund zu Neumarck“

Was sind das für Bücher? Wer war ihr Autor? Und wie kommen sie in den Bestand des Kirchhertener Gemeindearchivs?

„Postille“ ist die korrekte Bezeichnung für diese Art Literatur. Das Wort „Postille“ ist von dem lateinischen Ausdruck „post illa“ abgeleitet. Mit den Worten „post illa verba sacrae scriptura“, – zu Deutsch: „nach jenen Worten der Heiligen Schrift“ – wurde früher im Gottesdienst der Beginn der Predigt angekündigt. Eine „Postille“ ist demnach eine Predigtsammlung.

Die Reformation legte besonderen Wert darauf, dass den Menschen im Gottesdienst die Bibel erklärt wurde. Ein evangelischer Gottesdienst ohne Predigt war daher unvorstellbar. Schon 1521 hatte Martin Luther seine „Kirchen-und Hauspostille“ veröffentlicht. Das war eine Art Sammlung von Muster-Predigten. Sie verfolgte zwei Ziele: Erstens sollte diese Sammlung jungen Theologen beibringen, wie man predigt. Und zweitens sollten lesekundige Haushaltsvorstände der ganzen Familie die wichtigsten Texte der Bibel samt Erklärungen vorlesen.

Die beiden in Siegen gedruckten Postillen in unserem Archiv stammen von dem reformierten Theologen und Erbauungsschriftsteller Georg Spindler. Seine genauen Lebensdaten sind unbekannt. Etwa 1525 wurde Georg Spindler in Plauen (Vogtland) geboren. Etwa 1605 starb er in Neumarkt in der Oberpfalz.

1548, zwei Jahre nach Luthers Tod, findet sich Spindler als Theologiestudent in der Immatrikulationsliste der Universität Wittenberg. Seine Zeit als „Kandidat der Theologie“ verbrachte er als Lehrer im Thüringischen Zeulenroda (1550-53) und danach im Erzgebirgischen Scheibenberg (1555). Von 1558 bis 1580 bekleidete er am Südrand des Erzgebirges als Pfarrer im böhmischen Städtchen Schlackenwert (heute: Ostrov nad Ohří) eine Pfarrstelle.

Mit einem Traktat über die innerprotestantischen Streitfragen des Abendmahls trat Georg Spindler 1574 als lutherischer Autor in Erscheinung. Doch bereits nach wenigen Jahren bereute Spindler dieses Buch. Denn zwischen 1578 und 1580 wandelte er sich zu einem entschiedenen reformierten Theologen. Er verlor seine Pfarrstelle und irrte einige Jahre durch Europa, lernte dabei auch die straff organisierte reformierte Gemeinde in London kennen.

1584 fand Spindler Aufnahme in der Oberpfalz. Sein neuer Landesherr Johann Casimir von Pfalz-Simmern förderte das reformierte Bekenntnis in seinem ganzen Herrschaftsbereich und verdrängte die lutherische Reformation seiner Vorgänger. Feingefühl bei der Wahl der Mittel war Johan Kasimir nicht nachzusagen. Seine eigene Gemahlin, Elisabeth von Sachsen, eine Prinzessin mit lutherischem Bekenntnis, zwang er beispielsweise zur Konversion, indem er sie unter der Anschuldigung des Ehebruchs und des Mordkomplotts inhaftieren ließ. Sie wechselte den Glauben, überlebte aber nicht die Haftbedingungen.

Johann Casimir freute sich jedenfalls über jeden eifrigen Theologen, der ihm half, die lutherische Bevölkerung wirkungsvoll vom Calvinismus zu überzeugen. Georg Spindler schien ihm für diese Aufgabe besonders geeignet zu sein. Er predigte in Pölling, Berngau und Eschenbach und war dabei anscheinend auch sehr erfolgreich. 1595, also mit etwa 70 Jahren, setzte sich Georg Spindler in Neumarkt zur Ruhe und widmete sich ganz dem Bücherschreiben. Wegen seiner Verdienste um die Verbreitung des reformierten Bekenntnisses wurde er gegen Ende seines Lebens in den Adelsstand erhoben.

1597 erschien aus Spindlers Feder eine Postille mit 52 Predigten über den Heidelberger Katechismus. So konnte im Verlauf eines Jahres die ganze reformierte Glaubenslehre im Gottesdienst vermittelt werden. Zu dieser Zeit war Spindler schon über die Grenzen der Kurpfalz hinaus ein gefragter Autor. Denn ein Jahr zuvor, also 1596, erschien in Siegen bereits die zweite Auflage seiner Postille zu den Sonntagsevangelien des Jahres. Gleichzeitig kam – ebenfalls in Siegen – seine neue Predigtsammlung zu den Passions- und Ostertexten des Johannes-Evangeliums heraus.

Georg Spindlers Lebenswerk war im unmittelbaren Wirkungsbereich keine Dauer beschieden. Denn die gesamte Kurpfalz wurde zwischen 1620 und 1623 wieder dem römisch-katholischen Bekenntnis zugeführt. Dabei erwiesen sich die spanischen und bayrischen Truppen auch nicht gerade als feinfühlig, jedoch als anhaltend erfolgreich.

Spindler Postilla neuer EinbandSpindlers Predigtsammlungen von 1596 finden sich in unserem Archiv. Lange Zeit, vielleicht sogar von Anfang an, waren sie in einem einzigen Band zusammengefasst. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass wenigstens das Titelblatt der Passions- und Osterpredigten erhalten geblieben ist. Es fand sich nämlich im inneren Bereich des Konvoluts, während die vorderen und hinteren Seiten nach Verlust des Einbandes irgendwann dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen waren. Vor einigen Jahren wurden die beiden Postillen restauriert und die fehlenden Seiten durch Kopien aus vollständig erhaltenen Exemplaren ergänzt. Seither werden sie auch in getrennten Einbänden aufbewahrt.

Wie und wann diese beiden Spindler-Postillen nach Kirchherten kamen, ist unbekannt. Überall, wo die Reformation in der frühen Neuzeit unterdrückt wurde, avancierten solche Postillen jedenfalls zur begehrten Schmuggelware. Wo die evangelischen Prediger geflüchtet waren oder im Gefängnis saßen, trafen sich couragierte Protestanten heimlich und lasen sich gegenseitig aus einer Postille vor. Vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis nach dem 30jährigen Krieg hatte die damals reformierte Gemeinde in Kirchherten oft keinen eigenen Prediger. Aber anscheinend gab es Gemeindeälteste, die wohlhabend und lesekundig waren, so dass sie ein Buch mit Lesepredigten kaufen und daraus vorlesen konnten.

Die Gebrauchsspuren an den beiden Spindler-Postillen beweisen, dass die Bücher oft und über einen langen Zeitraum hinweg benutzt worden sind. Welchen – nicht nur ideellen – Wert sie für eine „Gemeinde unter dem Kreuz“ gehabt haben mussten, offenbart der Umgang mit einer Beschädigung: Bei der Predigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis über die beiden Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen (Lukas 15,1-10) fehlt an zwei Blättern jeweils die untere Hälfte. Ein Unbekannter muss das Papier herausgerissen haben. Von späterer Hand sind hier fein säuberlich zwei leere Papierbögen angeklebt und die fehlenden Textpassagen mit Schreibfeder und Tinte ergänzt worden – wohl unter Zuhilfenahme eines anderen Druckexemplars.

So viel Mühe kostete bisweilen die Verfügbarkeit einer qualitativ hochwertigen Bibel-Auslegung – 400 Jahre vor „predigt.de“.